Polyamant
10 Jahre und 10 Jahre

Ostern habe ich Familienvideos gesehen. Aus den Jahren 1994 bis 2002, also ab dem Moment, als das erste Kind unterwegs war bis zu seinem neunten Geburtstag, ein halbes Jahr vor der Trennung.

In dieser Zeit ist viel passiert. Unter anderem drei Umzüge, folglich gab es auch ein Video von kurz nachdem wir unsere erste gemeinsame Wohnung bezogen haben sowie eines, auf dem unsere letzte zu sehen war. Es ist ein seltsames Gefühl gewesen, diese Wohnungen wieder zu sehen. Einerseits hatte ich sie wohl aktiv verdrängt, aber auch vieles davon einfach nur so vergessen. Die Räume, die Dinge darin und uns als Personen darin zu sehen bereitet mir Unbehagen. Ich wollte einerseits am liebsten wegschauen, andererseits erfüllte mich der Anblick mit einer seltsamen Wehmut, die ich auf keinen Fall wegschieben wollte.

Dass ich mir da einen mit fast zehn Jahren doch sehr langen Lebensabschnitt von mir ansehen konnte war nur ein Grund, mich seltsam zu fühlen. Ein zweiter war die Gewissheit, dass fast nichts davon heute irgendwie relevant ist - es ist alles vorbei und sehr weit weg. Ich habe ein so völlig anderes Leben als damals und wenn ich mir mich- uns - im Jahr 1997 anschaue, erkenne ich: wir haben keine Ahnung davon, dass alles anders kommen wird. Die Probleme mit denen wir dort zu tun haben sind sehr immanent: Es sind Arbeit, Kind, Wohnung. Der Aufbau einer Familie, was bis 2002 auch - zumindest für mich - scheinbar ein schnurgerader Weg.

Ein dritter Grund, der mich in einer gewissen Weise verwirrt zurückließ - bis heute - ist die Erkenntnis, dass zwischen dem Ende dieses zehn Jahre langen Lebensabschnittes und heute eine eben so lange Zeit liegt. Es sind weitere zehn Jahre vergangen. Diese Gefühle sind verwirrend und schwer oder gar nicht einzuordnen. Ich weiss nicht, was ich damit tun soll.

Ich stehe nun neben mir und wundere mich. Sollte ich traurig sein? Oder froh? Stattdessen bin ich vor allem verwirrt, fühle mich entkoppelter denn je und weiß noch weniger, was ich eigentlich für mich will oder von mir zu tun erwarte. Ich treibe stattdessen noch weiter herum.

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Wer ist das?

Ich lese das Tagebuch eines 21-jährigen. Es spielt 1989, er ist gerade mit seiner ersten großen Liebe zusammengekommen und hat das Abi grade so geschafft.

Es ist ein sehr unsicherer Mensch, um nicht zu sagen völlig verängstigt. In ständigem Hader, ob er alles richtig macht und er scheint unfähig zu sein, mit seiner Zeit etwas sinnvolles anzustellen, wenn er alleine ist.

Ich erinnere mich an ihn. Er konnte sich in wenigen Stunden so viele Sorgen und Gedanken machen, dass er völlig erstarrte - und in dem Tagebuch sind es Wochen, die er dafür zur Verfügung hatte.

Ich würde ihm so gerne ein paar Dinge erleichtern. Ihm erklären, dass es gut ist, jemanden zu lieben, aber es niemandem nutzt, sich derart in Stress zu begeben. Ich würde ihn drängen, schöne Dinge zu tun. Nur für sich selbst. Weil das gut tut. Ich würde ihm zeigen, dass zwanzig Jahre später alles ganz anders ist als er es sich wünschte, aber dennoch alles in Ordnung ist.

Ich lege meine alten Tagebücher jetzt lieber wieder ins Regal zurück.

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Vor einem Jahr

Klare Momente sind es. Kurze, klare Momente. Und plötzlich merkt man, daß man stehen geblieben ist. Und dann setzt man wieder einen Fuß vor den anderen und beginnt loszulaufen. Und dann fällt die Kruste ab, die sich um einen gebildet hat. Und dann wundert man sich über die Sorgen, die man sich gmacht hatte und bemerkt, daß es nicht die anderen waren, die einen unglücklich gemacht haben, sondern man selbst.

Und dann ist man endlich wieder in der eigenen Welt, in der man die Richtung selbst bestimmt. In der man aus der eigenen Kraft entscheidet. Das fühlt sich gut an. Das fühlt sich richtig an. Das fühlt sich echt an.

Dann will ich los marschieren, mein Leben suchen. Der Geliebten zeigen, daß ich wieder aufgestanden bin. Die Freunde wiederfinden, die ich brauche. Die Grenzen abstecken, die für mich wichtig sind.

- 3.Juli 2009

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Im höfischen Leben

Hörte ich ein Raunen, als ich auf die Bühne trat? Was sollte ich jetzt spielen? Ich fragte nach einem Sinn. Die Leute sahen mich belämmert an.

Das darf mir heute nicht passieren, denke ich bei mir und gab dem Orchester das vereinbarte Zeichen. Der Paukenschlag weckte die ersten Zuschauer, der Trompeteneinsatz entlud sich auf die restlichen.

Oje, denke ich, und besänfige die Massen mit Karamelbonbons. Ich forsche nach dem Souffleur, aber da ist keiner. Also ist es bloß ein Traum, freue ich mich. Und ich beginne, das Publikum auszulachen, es lachte mit, aus Unwissenheit wohl, was mich noch fröhlicher macht. Ich hüpfe närrisch ins Parkett und töte den Gemahl der Gräfin. Alle sind begeistert und applaudieren, der Graf glotzt nur blöde vor sich hin, hat er doch mit sowas nicht gerechnet.

Dann rufe ich mich zum König aus, danke ab und der Staat geht prompt vor die Hunde, ohne König.

Siehst du, sag ich zu meinem Bilde, so ist das, bei Hofe.

10. November 1988

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