Polyamant
Plötzlich wieder Alien

Ich stand vor 24 Kunden und erklärte ihnen die Ergebnisse eine Analyse, die wir gemacht haben. Inhaltlich war ich gut im Thema. Es ging ohnehin um meinen Home Turf, also Usability und Informationsarchitektur und all die anderen Themen, in denen ich so lange unterwegs bin, dass ich wahrscheinlich auch völlig unvorbereitet eine gute Figur abgeben hätte können.

Und dann war ich plötzlich wieder 12 Jahre alt. Alien. Eine dicke Mauer zwischen mir und der Welt. Ich fand nicht rein in die Welt. Ich blieb in mir stecken.

Das ist mir sehr lange nicht mehr passiert. Ich dachte, ich habe in den Jahren genügend Türen in die Mauer gebaut: Ich kann mich inzwischen an Small Talk beteiligen, habe Mimik und Körpersprache lesen gelernt und weiß, wie man Kommunikation initiiert. Aber plötzlich waren diese Türen nicht mehr da und ich geriet innerlich in totale Panik (was natürlich jenseits der Mauer kein Mensch mitbekommen hat).

Am Ende spulte ich meinen Vortrag eben hinter der Wand ab, in der Hoffnung, das passt davor schon irgendwie und offenbar war das auch so. Aber ich hatte die ganze Zeit keine Rückmeldung erkennen können, ich konnte mich nur an die Uhr halten und an den Inhalt, den es zu referieren galt. Ob ich zu viel ins Detail ging, ob ich zu schnell oder zu langsam war, ob ich das Publikum gerade langweilte, amüsierte oder ärgerte... keine Ahnung. Ich schaffte es nicht, auch nur einem ins Gesicht zu sehen, was ich ja aber musste: Ich hatte ja gelernt, so vor Menschen zu sprechen, dass sie mir zuhörten und ich eine Beziehung zu ihnen erreiche und stand fassungslos neben mir selbst und sah mir zu.

Ich versuchte, mir zu erklären, auf was ich achten muss muss und ich selbst versuchte, wenigstens so zu tun als schaue ich die Menschen vor mir an. Es wurden so drei sehr anstrengende Stunden. Der Teil von mir, der wusste wie es geht stand neben dem Teil von mir, der es nicht wusste. Aber der Teil, der es nicht wusste war der Teil, der redete.

Nicht mal danach konnte ich sagen, wie es gelaufen ist. Nicht dass es schwer war, weil es im Publikum viel Zurückhaltung gegeben hätte oder gemischtes Feedback oder Diskussionen - das gibts ja manchmal auch. Nein, es war einfach keine verwert- oder interpretierbare Information bei mir angekommen. Null. Nada. Nichts. Das musste ich die Kollegen fragen, die mir sagten, es sei alles super gewesen. Ich selbst hatte dagegen den Eindruck, es war grauenhaft und ich müsste im Boden versinken.

Ich bin immer noch völlig erschüttert, denn wie es ist, wenn man plötzlich wieder von allen Signalen abgeschnitten ist, die lesen zu können man so lange gebraucht hat und so viel Energie gekostet hat, war schlichtweg erschreckend.

Für mich ist die Erinnerung an diesen Termin heute wie ein Geschichte, mit der ich nichts zu tun habe. Wie die Erinnerung an ein Youtube-Video, das ich gesehen habe, anstatt an ein Ereignis, bei dem ich Teil gewesen bin. Aber das ist auch gut, denn so kann ich versuchen, den Film Bild für Bild zu analysieren und vielleicht im Nachhinein herauszufinden, was das Alien am Redepult vielleicht hätte erkennen können.

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Die Tage, in denen nichts läuft

Ich wäre gerne wacher dieser Tage und würde gerne mehr leben. Aber ich bin ständig müde und alles scheint schwierig, alles scheint anstrengend. Ich habe wenig Lust auf Neues, bin grade meine eigene Nebensache. Ich fühle mich alt und aufgebraucht. Alle Energie ist irgendwo anders und nicht erreichbar.

Das ist nicht neu, das geht dann auch wieder vorbei und kommt dann auch ein andermal wieder. Grade kommt es mal wieder. Ich bekomme keine Ordnung in mein Leben; was nicht bedeutet dass es chaotisch ist: Nur dass ich es schleifen lasse. Ich arbeite stattdessen wieder zu viel, was ich immer tue wenn ich nicht weiß was ich sonst tun kann. Ich mag Zerstreuung nicht, weil sie nicht funktioniert. Wenn ich mich zerstreuen will merke ich das und bin genervter als wenn ich akzeptiere dass gerad einfach nichts läuft.

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Und dann

Ich begann grade zu rutschen.

Und dann klingelt es an der Tür und es war nicht - wie ich eigentlich dachte - die Müllabfuhr.

Sie nahm mich in den Arm, küsste mich und alles wurde gut. Der Magen entspannte. Die Zweifel verbrannten zu Staub. Die Ängste versanken in die Tiefen, in denen sie gut aufgehoben sind.

Es geht mir gut. Ich brauchte sie und sie stand vor der Tür. Sie konnte das, was ich gerade erst geschrieben hatte noch nicht gelesen haben - ich habe gerade erst auf "Speichern" geklickt, als es klingelte.

Ich lebe in einer magischen Welt. Mir tun die Menschen leid, die das nicht haben. Ich könnte nicht anders leben - die kurzen Momente, in denen ich auch nur befürchte, die Welt könnte am Ende doch nur dieser rationale, mechanische, lieblose Ort sein sind beängstigend und beklemmend genug.

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Heute

ist es schlimm. Der Magen ist flau, die Zweifel sind groß. Die Ängste treiben ganz nah unter der Oberfläche. Was ich brauche ist nicht erreichbar. Was ich wünsche ist nicht erfüllbar.

Das dauert nicht lange, sagt meine Erfahrung.
Das ist mir egal, sagt mein Herz.

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Abstände

Ich merke langsam, wie die Entfernung zunimmt allein dadurch, dass kein "Na, wie gehts" mehr per SMS kommt und mir es oft unpassend vorkommt, mich meinerseits zu melden. Jedes "Hi" per Chat wird vorher hin und hererwägt, weil ich erst überlegen muss, ob ich eventuell aufdringlich rüberkommen könnte, was ich auf gar keinen Fall möchte.

Es sind einfach ein paar Dinge verschwunden. Es gibt keinen Telefonsex mehr und keinen Austausch von heißen SMSen um die Zeit zu überbrücken, in der wir uns länger nicht sehen. Ich weiß viel weniger von den Dingen, die sie täglich beschäftigen, weil sie sich darüber mit anderen austauscht und nicht mehr mit mir. Wir begegnen uns immer noch, aber erkennbar auf getrennten Wegen.

Nicht falsch verstehen: Das ist nichts, was ich beklage. Es ist etwas, das ich beobachte und feststelle. Ich will mir lediglich hierüber bewusst werden.

Ich muss herausfinden, wie ich hier am besten zu mir selbst stehen kann und wo ich mit mir selbst eigentlich hin will.

Eine Vorgehensweise, die vielleicht sogar funktionieren könnte, wäre die, jetzt so viele neue Erfahrungen und Bekanntschaften zu machen wie möglich. Dazu habe ich allerdings überhaupt keine Lust. Mein Interesse daran, irgendwelche Menschen ohne irgendeinen inspirierenden Kontext (Sex ist zunächst keiner) kennen zu lernen war noch nie besonders groß. Ich kenne außerdem auch schon genügend Leute, die ich gerne noch besser kennen möchte, wozu da also neue Bekanntschaften machen?

Ich möchte vor allem mehr darauf achten, wie es mir geht. Ich merke zum Beispiel, dass ich mich an vielen Kleinigkeiten störe, die mit diesem Polydings zu tun haben. Ich mag nicht, wie viele "Polys" über ihre "Beziehungen" reden. Wie sie sie nennen, wie sie flapsig und unaufmerksam sind und vor allem sehr Ich-bezogen und oberflächlich reden und agieren.

Das schaue ich mir gerade an und überlege bei jedem dieser Dinge die mir unangenehm sind, was es genau ist, was mich stört. Was ich dabei schon gemerkt habe: Meistens ist es nicht irgendeine konkrete Sache selbst, sondern die Haltung, mit der darüber geredet wird. Mich stößt z.B. - das ist inzwischen eine klare und gesicherte Erkenntnis - so eine ganz bestimmte Form der Angeberei ab. Meistens ist die einhergehend mit einer Herabwürdigung des Partners/der Partner oder der Partnerin/nen, als ob diese Haustiere sind oder Kinder - über die sich derjenige offensichtlich irgendwie erhaben fühlt oder sich fühlen will. Meine Aversion gegen solche Menschen tritt dabei sofort und nachhaltig ein; so sehr dass ich nicht mehr fähig bin, überhaupt noch ein Wort mit ihnen zu reden (was sie dann aber auch gar nicht merken, da es ihnen anscheinend tatsächlich eher darum geht, allein über sich zu reden - Feedback ist da anscheinend gar nicht wichtig).

Die Überlegung, die ich mir mache ist natürlich, warum ich so heftig ablehnend reagiere. Die Antwort dürfte ungefähr die sein, dass ich in eine Situation, in der über mich als Partner so geredet würde, nie kommen will. Das geht so weit, dass mich Menschen mit einer solchen Haltung fast körperlich abstoßen. Ich möchte die partout nicht um mich haben. es ist aber wichtig und auch beruhigend für mich, festgestellt zu haben, dass mich eben nicht Mehrfachbeziehungen stören. Sondern eben diese ganz bestimmte Haltung dazu, die das Schöne einseitig verteilt und die Beziehungen nur als Mittel zum Zweck betrachtet, um das eigene Ego aufzupolieren.

Um nun irgendwie den Gedanken zu ende zu bringen, mit dem ich anfing: Ich möchte eine bewusste, gesunde Neuorientierung für mich vornehmen. dazu gehören drei Dinge:

1. Die Veränderung in meiner konkreten Situation verstehen, akzeptieren, einordnen können.

2. Daraus überlegen oder besser erspüren, was ich für mich nun eigentlich möchte, was für mich ok geht in der veränderten Situation, aber auch was ich jetzt selbst tun möchte.

3. Wenn ich andere Menschen - und zwar gerade solchen, die in der Polyecke herumschwirren - dabei zusehe, wie sie mit ihren Mitmenschen und vor allem mit ihren Partnern umgehen, kann ich durchaus schon einige Erkenntnisse ziehen. Hier bin ich aber noch am wenigsten weit. Ich sehe aber, dass es dort Haltungen gibt, die mir gar nicht gefallen und die z.B. mindestens ebenso chauvinistisch daherkommen wie die von irgendwelchen spießigen Patriarchen. Es fehlt die Achtung und die gleiche Augenhöhe. Ich weiß, wenn die gewahrt bleibt, kann man auch auf eine gute, schöne Weise mit mehreren Partnern leben.

Wobei mir gerade noch eine weitere Eigenart einfällt, die mir auf die Nerven geht: Da gibt es bei manchen so eine Art Verpflichtung, mehrere Partner haben zu müssen um "dazuzugehören" oder gar eine Art Wettbewerbsstimmung. Das allerdings ist beides schon gleich so kindisch, dass ich mir da keine Sorgen mache, dass mich da irgendwer in Zugzwang bringen könnte.

Aber das sind alles die Dinge, die ich nicht mag. Was ich aber tatsächlich möchte, das wohin und was und wie und mit wem ist momentan noch sehr unklar und wenig greifbar für mich. So wenig, dass ich das Gefühl habe, hier noch in einem Sumpf im Nebel herumzustolpern, weil ich meine Führerin verloren habe, die sich hier auskennt und mir bisher immer den Weg sagen konnte. Es ist natürlich ok, mir jetzt meinen Weg selbst suchen zu müssen. Aber hin und wieder falle ich über eine Wurzel oder laufe gegen einen Baum und das sind die Momente in denen ich mich hilflos fühle.

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